(Das Folgende ist ein Text, den ich in den letzten Wochen geschrieben habe, weil ich mich immer wieder über die ständig wiederholte Behauptung geärgert habe, Lenas Erfolg beruhe darauf, eine bürgerliche Mittelschicht-Antifigur zum DSDS-Proletariat zu sein. Wenn man das schon zu widerlegen versucht, dann richtig. Das Ergebnis ist eigentlich viel zu lang für einen Post hier. Ich entschuldige mich dafür, weiß aber nicht, was ich sonst damit anfangen soll. Es muss ja niemand lesen! Vielleicht gibt es aber welche, die etwas Interessantes daran finden. Viele der Gedanken in dem Text verdanke ich Anregungen aus diesem Forum. Dafür vielen Dank!)
I.
Der außergewöhnliche Aufstieg Lena Meyer-Landruts – von der anonymen Abiturientin zum derzeit größten Popstar des Landes innerhalb von nur drei Monaten – schreit nach Deutung und Erklärung. LML besitzt etwas, das bei den Deutschen offensichtlich den Reflex auslöst, sie - je nach Alter – auf der Stelle als große Schwester, beste Freundin, Traumfrau oder Wunschtochter adoptieren zu wollen. Klar ist, dass LML bildhübsch ist, dazu klug, schlagfertig und witzig, dass sie guten Geschmack in Musik- und Kleidungsfragen beweist und mehr als passabel singt und tanzt. In erster Linie besitzt sie ein außergewöhnliches Talent zur vokalen und gestischen Inszenierung der Lieder, die sie singt, mit dem sie auch aus mittelmäßigem musikalischen Material Funken schlägt. Dennoch: Diese und ähnliche Fähigkeiten besitzen viele Menschen. Das allein erklärt nicht die Stärke der Empfindungen zwischen Bewunderung, Sehnsucht und Verliebtheit, die LML entgegen gebracht werden.
II.
Auf der Suche nach dem fehlenden Element zur Erklärung der Lenamania hat sich eine Erzählung etabliert, die LML als Projektionsfläche einer Sehnsucht des Publikums nach „Normalität“ und „Anstand“ im TV- und Musik-Business sieht: Lena als der „Popstar fürs Bürgertum“. Diese Erzählung entstand mit einem Spiegel-Beitrag, in dem Unser Star für Oslo als kultiviertes Musizieren für Abiturienten und Studenten vor einer seriösen Fachjury bespöttelt und als Gegenveranstaltung zur Trash-Konkurrenz von Deutschland sucht den Superstar charakterisiert wurde, wo gescheiterte Existenzen aller Art zu den vulgären Kommentaren eines Dieter Bohlen in Gladiatorenkämpfe gehetzt werden. Zum Sinnbild dieser Gegenüberstellung wurde der typisierte Vergleich zwischen den beiden jeweiligen Show-Favoriten: Hier der Freak Menowin Fröhlich, abschluss- und arbeitsloser, mehrfach vorbestrafter Ex-Sträfling, der drei Kinder mit der eigenen Cousine hat, schrill, bedrohlich und trashig - dort die Lichtgestalt Lena Meyer-Landrut, Abiturientin aus gutsituiertem Hause, Diplomatenenkelin, Taizé-Begeisterte, „Sophies Welt“-Leserin, gebildet, eloquent und distinguiert. Dieser Erzählung zufolge ist LMLs Erfolg darauf zurückzuführen, dass sich die silent majority des bürgerlichen Mittelstandes mit ihr identifizieren kann und sie in erster Linie als Inkarnation des eigenen Idealbildes einer Höheren Töchter liebt, als Gegenfigur zum skurrilen Freakproletariat, das die Nachmittagstalkshows bevölkert. Diese Erzählung ist seit ihrer Entstehung in medialer Dauerschleife wiederholt worden (zuletzt in der großen, mehrseitigen Reportage des Stern) und hat sich im Diskurs über LML mehr oder weniger als die offizielle Deutung ihrer Geschichte durchgesetzt.
III.
Die soeben umrissene Erzählung – ich nenne sie die Höhere-Tochter-Erzählung (HTE) – funktioniert, um es kurz zu machen, als Erklärung des Erfolgs von LML vorne und hinten nicht. Darum geht es mir hier. Zunächst ist LML nicht die Figur, als die sie in der Erzählung auftaucht. Das hätte man von Anfang an wissen können, hätte man auf die Details geachtet, die sich mit ihr schlecht vertrugen. Höhere Töchter – auch exzentrische – haben keine Tattoos und keine Zahnpiercings. Sie tanzen Ballett, nicht Hip-Hop. Sie geben nicht fröhlich zu, mittelmäßige Schülerinnen zu sein, auch fahren sie TV-Urgesteinen nicht rotzfrech über den Mund und sagen nicht ständig „scheiße“ und „kotzen“ live im Fernsehen. Der Widerspruch zwischen HTE und Realität wurde völlig offensichtlich, als durch das unappetitliche Wühlen der Boulevardmedien weitere Details bekannt wurden: Ein so überhaupt nicht distinguierter untergetauchter Vater, die nebenbei geäußerten Bekenntnisse, zu rauchen und auch schonmal besoffen gewesen zu sein, vor allem aber natürlich die Auftritte als Laiendarstellerin in genau jenen dubiosen Nachmittags-TV-Formaten, in die LML sich nach der HTE niemals hätte verirren dürfen, davon einer sogar – Gott behüte – ganz und gar nackt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war das Höhere-Tochter-Image von LML als reine Erfindung der Medien enttarnt. Wenn die HTE zuträfe, hätte daher zu diesem Zeitpunkt die Lenamania zusammenbrechen und ein Großteil der Deutschen sich enttäuscht von LML abwenden müssen. (Und mit genau diesem Ziel wurden die entsprechenden Medienberichte natürlich auch lanciert.) Tatsächlich aber haben all die rechten Haken gegen das Höhere-Tochter-Image der Verliebtheit des Publikums keinen messbaren Abbruch getan. Was das Bürgertum bei seinen eigenen Töchtern zweifellos stören würde, stört es bei LML offenkundig kaum. Also liebt es LML offensichtlich nicht als sein eigenes Spiegelbild, wie die HTE behauptet. Was immer also der Grund für die Lenamania ist: Die HTE kriegt ihn nicht zu fassen.
IV.
Dabei beruht die HTE auf einer richtigen Beobachtung: LML ist eine Gegenfigur zu all den hunderten Kandidatinnen und Kandidaten, die wir im letzten Jahrzehnt in Dutzenden von Casting Shows im Fernsehen haben vorbeiziehen sehen. Das Phänomen LML ist zweifellos darin begründet, dass sie in dem Rahmen, in dem sie zur öffentlichen Person wurde, so vollständig aus dem Rahmen fiel. Aber es ist schlecht beobachtet und ziemlich primitiv gedacht, ihre Andersartigkeit schlicht darin zu sehen, dass sie der bürgerlichen Mittelschicht entstammt, während das Personal einer Show wie DSDS eher den bildungsfernen Schichten entspringt. Dieser Unterschied hat, wenn überhaupt, mit dem eigentlichen Phänomen nur indirekt etwas zu tun.
V.
LMLs Andersartigkeit besteht vielmehr in dem, was Entdecker und Mentor Stefan Raab schon vom ersten Moment an als ihre „Haltung“ bezeichnete. Worin besteht diese Haltung? Sie besteht darin, die Gehirnwäsche zu durchbrechen, die das Format Casting-Show seit über einem Jahrzehnt betreibt und mit der es nicht nur unsere Wahrnehmung von Popmusik infiziert hat. Nicht umsonst spricht man inzwischen von einer „Generation Casting-Show“, welche die in diesem Genre üblichen Prinzipien und Regeln längst für das ganze Leben akzeptiert und verinnerlicht hat. Worin besteht das Prinzip Casting Show? Das lässt sich in jeder beliebigen dieser Sendungen – ob nun DSDS oder Germany’s Next Topmodel – mühelos beobachten. Regel Nr. 1: Der Weg zum Erfolg besteht darin, sich der Jury vollständig zu unterwerfen. Die Jury ist Gott. Sie agiert nach dem Prinzip, dass der Wille des Kandidaten zunächst gebrochen werden muss, damit er sich den Anweisungen der Experten vollständig ausliefert und sich von ihnen formen lässt. Du sollst nicht so sein, wie Du selbst Dich haben willst, sondern wie andere Dich haben wollen. Es gibt daher keinen sichereren Weg, im Casting-Universum den sozialen Tod zu erleiden, als an der Jury Kritik zu üben, ihre Anweisungen zu hinterfragen oder auf eigenen Vorstellungen zu beharren. Beleidigung, Erniedrigung und aufgezwungene Demuts-Rituale sind die unvermeidliche Folge. Regel Nr. 2: Der Weg zum Erfolg besteht aus Blut, Schweiß und Tränen und in dem bedingungslosen und fanatischen Willen, ihm alles andere unterzuordnen. Dies ist die wichtigste Botschaft der Casting-Show. Deshalb gibt es in ihren Beurteilungsritualen keine vernichtenderen Abmahnungen als „Du arbeitest nicht hart genug an Dir“ oder „Wir können nicht erkennen, dass Du das hier wirklich willst“. Die Kandidatin kann diesen Verurteilungen nur entkommen, indem sie sich so lange schindet, bis sie auf offener Bühne kollabiert oder wenigstens einen Weinkrampf erleidet, und außerdem in den immergleichen Floskeln gegenüber der Jury beteuert, dass sie bereit ist „alles zu geben“ für den Erfolg in der Show, dass sie „nichts anderes will als kämpfen und weiterkommen“ und überhaupt diese Sendung ihre „einzige und letzte Chance“ sei, etwas aus sich zu machen. In den Schauritualen von DSDS und GNTM gibt es deshalb kein den Kandidaten häufiger abgepresstes Bekenntnis als dieses. Es gehört zwingend dazu. Mit selbstbewussten Kandidaten, die einfach lachend gehen, wenn sie genug davon haben, sich anpöbeln zu lassen, weil sie nämlich noch etwas anderes mit ihrem Leben anzufangen wissen, funktioniert das Konzept der Sendung nicht.
VI.
LMLs „Haltung“ ist die vollständige und radikale Antithese zu den beiden genannten fundamentalen Grundregeln der Casting Show. Sie besteht in der Weigerung, sich von den Unterwerfungs-, Leistungs- und Wettkampf-Imperativen dieses Formats bestimmen zu lassen. Berühmtheit hat sie unter anderem damit erlangt, dass sie schon bei ihrem ersten Auftritt gegen Regel Nr. 1 verstieß und darauf bestand, lieber auszuscheiden anstatt nicht den von ihr selbst präferierten Song zu singen. Insbesondere aber verstößt LML in praktisch jedem ihrer Interviews konsequent gegen Regel Nr. 2. Unbedingter Siegeswille, so sagte sie schon zu USFO-Zeiten und wiederholt es gegenwärtig anlässlich des Eurovision Song Contest immer wieder, sei ihr fremd. Jedes Ergebnis sei ihr recht, solange sie mit sich im Reinen sein. Konkurrenzdenken und Kampf um die Plätze auf dem Podest seien „nicht so ihr Ding“, ebenso wenig wie hartes Training und tägliches Üben. Sie schlafe lieber. Sie habe keine Technik, keine Strategie und nicht die Absicht, sich eine andrehen zu lassen. So tanz’ ich. Sie entwickele die Dinge lieber spontan und ohne große Überlegungen und Strategien. Überhaupt habe sie nie Popstar werden wollen, und ihr „großer Traum“ sei das schon gar nicht. Vielleicht mache sie bald etwas völlig anderes, an Ideen mangele es ihr nicht. Wichtig sei nur, dass ihr das Ganze momentan Spaß mache, eine tolle Erfahrung sei und sie als Mensch voranbringe. Man beachte: Jeder einzelne dieser Sätze wäre im TV-Leben eines normalen Casting-Produktes das Ende.
VII.
Gibt es einen Namen für diese Haltung? Ich behaupte: Ja. Sie ist nämlich überraschenderweise in überhaupt keiner Weise revolutionär oder neu. In Wahrheit ist sie bloß die fast triviale Erinnerung an die Haltung, die man noch nicht vor allzu langer Zeit grundsätzlich mit der Popmusik verbunden hat – bevor der Casting-Show-Diskurs die Kontrolle übernahm, und zwar so erfolgreich, dass man mit der bloßen Erinnerung an dieses Prinzip des Pop (ich benutze diesen Begriff hier in einem sehr weiten Sinne, der die gesamte populäre Musik von Folk über Rock, elektronische Musik, Heavy Metal und was weiß ich einschließt) inzwischen wie ein Wesen von einem anderen Stern erscheint. Denn das war doch das Versprechen der Popmusik seit ihrem Durchbruch in den frühen sechziger Jahren: Jung sein. Lässig sein. Cool sein. Feiern und Spaß haben. Und die Chuzpe zu sagen: Ich brauche Eure Lehren nicht. Ihr habt mir nichts beizubringen. We learned more from a three-minute record baby than we ever learned in school. Keine Gesangausbildung, kein Musikstudium, kein Tanzdrill, keine Arbeit. Eine Gitarre und drei Akkorde, das reicht – sofern man jung ist, und schön, und talentiert, und charismatisch. Und frech genug, sich einfach auf eine Bühne zu stellen und zu singen: I know it’s only rock’n’ roll, but I like it! Pop war mal das Gegenteil dessen, was die Casting-Show-Idee verkauft: das Versprechen vom Triumph der Leichtigkeit und der Mühelosigkeit. Nur Arbeit, Unterwerfung, Anpassung und Drill führen zum Erfolg im Musikbusiness? Gut, dass das niemand den Rolling Stones gesagt hat, als sie Exile on Main Street in einem mehrmonatigen halbnackten Dauerdrogenrausch in Südfrankreich zusammensponnen. Von dem Lachflash hätten sich die Armen nie wieder erholt. Der Erfolg von LML entlarvt den gesamten Diskurs des Casting-Unwesens als das, was er ist: hochideologisiertes absurdes Theater.
VIII.
Darum sage ich, mit Absicht plakativ: LML ist nicht die Ikone der Bürgerlichkeit. Sie ist die (sehn-)süchtig machende Erinnerung an das Glücksversprechen des Pop, verkörpert in dem Gesicht einer Caravaggio-Madonna mit ironischem Grinsen und frechem Mundwerk. Und dieses Glücksversprechen ist, dies ist der entscheidende Gedanke, zutiefst antibürgerlich und subversiv. Bürgerlich ist nämlich nicht nur das, was sich die Vertreter der HTE gerne darunter vorstellen (etwas, das vage mit geregelter Arbeit, Bücherregalen, Klavierunterricht und gepflegtem Abendessen im Familienkreis zu tun hat). Bürgerlich ist in erster Linie der Glaube an ein ganz anderes Versprechen, nämlich an das der disziplinierten Selbstzucht in Kombination mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Jeder ist seines Glückes Schmied und diejenigen werden den Lohn davontragen, die sich am meisten anstrengen, am fleißigsten schuften und am eisernsten sparen – und schon ihre dreijährigen Kinder in Chinesischkurse schleifen, der späteren Chancen am Arbeitsmarkt wegen. Das Glücksversprechen des Pop hingegen ist die Verweigerung dieses protestantischen Arbeitsethos. Pop scheißt auf Selbstdisziplin und Leistungsgerechtigkeit. Er belohnt nicht die Arbeitsbienen und die Klassensprecher. Er verschenkt sein Herz lieber an die arbeitsscheuen Spinner, genialen Dilettanten und verspielten Prinzessinnen, die es einfach mal ausprobieren. Pop kennt und will keine andere Begründung als die, dass eine wie LML schlicht ein Liebling der Götter ist, der die Herzen der Menschen zufliegen, ohne dass sie darum kämpfen muss. Du hast Star-Appeal. Menschen werden dich lieben. Das ist alles. Das kann man nicht lernen. Man hat es oder man hat es nicht. Daher können die, die es haben, es sich leisten, mit ihren Gaben gerade nicht nach Art der guten Wirtschafterin sparsam hauszuhalten, um sie zu mehren, sondern sie in geradezu aristokratischer Verschwendung zu verschenken. Sich nicht ängstlich an die Regeln zu halten, sondern in Freiheit mit ihnen zu spielen, Risiken einzugehen. Nicht die eigenen Fähigkeiten penibel zu dokumentieren, sondern sie zu ironisieren, damit herumzualbern, scheinbar nichts ernst nehmend – während die Braven, die sich das alles mühevoll angeeignet, eisern geübt und schwer gekämpft haben, fassungslos daneben stehen und die Ungerechtigkeit der Welt nicht mehr verstehen. Bei manchen kippt diese Verständnislosigkeit in ungezügeltes Ressentiment und Hass auf das Glückskind, oder in wüste Verschwörungstheorien.
IX.
Schlusspointe: Wenn diese Überlegungen zutreffen, dann ist nicht die angebliche Bürgerlichkeit von LML der Kern ihrer Anziehungskraft, sondern das Gegenteil davon. Die Sehnsucht, die LML weckt, ist nicht die Sehnsucht nach Bürgerlichkeit, sondern das Versprechen, dass – wenigstens stellvertretend in ihrer Person – die Befreiung vom Korsett der Bürgerlichkeit möglich ist. Deshalb träumen so viele laut oder leise davon, so zu sein wie sie – und schon allein diesen Traum träumen zu können, indem man sie beobachtet, führt ein Stück des Glücks mit sich. Wenn das Bürgertum LML liebt, dann nicht deswegen, weil sie genauso ist, wie es selbst, sondern weil es sich heimlich danach sehnt, ganz anders zu sein, als es ist. Allerdings kommt es noch schlimmer für die Anhänger der HTE, denn die ganze Überlegung zeigt noch ein Zweites: Wenn es überhaupt eine Verkörperung des Bürgerlichen im deutschen Fernsehen gibt, dann sind das ironischerweise eben die just von jenem Bürgertum so verachteten proletigen Casting-Shows. Als Dieter Bohlen verkündete, der von ihm nicht favorisierte Mehrzad Marashi habe DSDS dank „deutscher Tugenden“ (er meinte Fleiß und Disziplin) gewonnen, hätte er damit um ein Haar einmal etwas Wahres gesagt. Begriffen hat er es natürlich nicht. Das deutsche Feuilleton, das muss man leider anmerken, allerdings auch nicht.