Um nicht arg off-topic zu geraten, nur soviel an dieser Stelle: Ich will Dir zwar gern konzedieren, daß meine Kenntnis von Theorie und Praxis anarchischer Gesellschaftsstrukturen dürftig ist. Ich würde aber schon die These wagen, daß die "Lebbarkeit" derselben mit zunehmender Bevölkerungsgröße und -vielfältigkeit (damit auch Anonymität) deutlich abnimmt und irgendwo den Wert Null annimmt. Gerade das Beispiel des Scheiterns des Kommunismus in seiner Praxis des Ostblocks darf keinesfalls nur bestimmten Individuen angelastet werden, die die Grundidee verraten hätten - deren Handeln wird letzten Endes durch zwei Dinge bestimmt: durch kulturell tradierte moralische Maßstäbe aus Urzeiten (letztendlich wohl evolutionstheoretisch ableitbar), und durch die Anreize, die das aktuelle wirtschaftliche und politische System als solches produziert.This quote is hidden because you are ignoring this member. Show Quote
Wohlgemerkt: Die große Wirtschaftskrise von 2008-09 hat ja gezeigt, wie sehr die Überlebensfähigkeit auch des (weitgehend globalisierten) kapitalistischen Systems davon abhängt, ob solche moralischen Maßstäbe noch genug Kraft entfalten und nicht von perversen Anreizen des Wirtschaftssystems überdeckt werden. Ökonomisch ausgedrückt, hat diese Krise gezeigt, wie wichtig der "Produktionsfaktor" Vertrauen für das Funktionieren des Ganzen ist. Du kannst das Wort Vertrauen auch durch "Zusammengehörigkeitsgefühl einer bestimmten Gruppe von Menschen" ersetzen.
Das mit dem Setzen von Prioritäten stimmt und ist dennoch kein Widerspruch zu der von mir konstatierten Skepsis Lenas gegenüber der Planbarkeit von Veränderungen - sie ist sich schlicht bewußt, daß sich auch Prioritäten im Zeitablauf verändern und begrenzt daher den Zeithorizont ihrer Lebensplanung. Es geht sogar noch darüber hinaus: sie läßt bewußt dem Faktor Zufall einen Raum, denn es gibt nicht "den einen, alleinseligmachenden Lebensablauf". Im MoMa-Interview spricht sie ja auch davon, daß die Idee mit der Schauspielschule in Berlin ja "Plan A" war, sie somit nun "Plan B" verfolgt, ohne irgendwelche Reue anzudeuten (warum auch, es ist doch gut so aktuell, und Plan A kann in diesem konkreten Fall später ja wieder aufleben!). Diese Flexibilität ist AUCH ein wichtiger Grund für Lebensfreude - wenn unvorhersehbare Wendungen des Lebens einen anderen Weg aufzeigen, dann nimmt sie den voll an und grämt sich zu keinem Zeitpunkt, daß der ursprüngliche Plan nun verlassen wurde. Im Übrigen: Gerade auf die Gesundheit läßt sich nur begrenzt Einfluß nehmen. Jedoch: Der wirklich einzige Aspekt an Lena, der mich aktuell stört, ist, daß sie raucht - da ließe sich sehr konkret etwas für die Gesundheit tun.Das aber sagt sie zu "nebensächlichkeiten", denn auch lena hat dennoch klare und unverrückbare prioritäten. immer wieder und zu recht spricht sie davon gesund bleiben zu wollen, weil sie schon das als schatz erkennt. ebenfalls unverrückbar bleibt ihr die nähe zur familie und freunden. alles andere geht sie "typisch zwilling" optimistisch an und vertraut ihren augenblicksentscheidungen zu allem was da kommen möge.
Lies Dir doch bitte noch einmal das durch, was ich von Dir hier gerade zitiert habe, und dann frage Dich, wie Lena sich an Deiner Stelle zu dieser Zeit verhalten hätte. Natürlich ist das eine hypothetische Überlegung, und jeder Mensch ist durch seine Sozialisation geprägt.Das internationale aufbegehren der jugend mit zb. den hippies in den usa oder die studentenbewegung der 68ziger auf die raf zu reduzieren, ist mir wie eine bild-propaganda und wird dem in keinster weise gerecht. ich zähle diese bewegung zu den natürlichen veränderungen und die hand voll gewaltbereiten ganz sicher nicht als aushängeschild für diese zeit.
um da von meiner eigenen geschichte zu erzählen, war die gewaltlosigkeit geradezu ein "markenzeichen". ich wurde für flugblätter gegen die atomrüstung zu elf monaten stasihaft verurteilt. zu einer humanistischen gewaltverurteilenden grundhaltung, hätte eigenes gewalttätiges handeln wohl äusserst schlecht gepasst. der slogan..macht kaputt was euch kaputt macht, habe ich immer äusserst kritisch gesehen. ebenso war und ist für mich ein kleinkrieg mit der marionetten-polizei bei demos etwas völlig bescheuertes und spielt genau den falschen in die hände.
diese revolte richtete sich nicht nur gegen die machthaber, sondern gegen die väter und mütter dieser generation, die offensichtlich nichts aus all dem gelernt hatten. guck dir mal ganz normale bürgerbefragungen in dieser zeit zu denen an, die sich mit langen haaren und minirock trauten anders zu sein. ohne nur den gedanken sich für so eine einstellung evt. schämen zu müssen, hiess es man sollte diese gammler in arbeitslager stecken, oder am besten gleich an die wand stellen und erschiessen. applaus aus der menge..zwischenrufe..ja, gleich aufhängen solches gesockse.
meine rebellion sah so aus, das zu leben was ich wollte, und damit besser zu sein als das was ich als normal erlebte. hass und gewalt kam dafür von der anderen seite, nicht von "uns".
Worauf ich hinaus will ist jedoch das Folgende: Aus Deinen Zeilen atmet, auch nach 3-4 Jahrzehnten, der Geist dieses "Gut-Böse-Schemas". Nebenbei habe ich keineswegs die 68er (für die ich übrigens von meiner eigenen politischen Haltung her sehr große Sympathie hege) auf die RAF reduzieren wollen, Letztere habe ich mit den "kritischsten Stimmen" bezeichnet, also am extremen Ende eines Spektrums. Man spürt die Verbitterung bei Dir, selbst nach so langer Zeit, von anderen Menschen ins Arbeitslager bzw. an die nächste Wand vor ein Erschießungskommando gewünscht zu werden - obwohl Du altersbedingt (Jahrgang 1961, wenn ich mich nicht irre, wie ich auch) diese Dinge ja vermutlich nicht selbst als politisch denkender Mensch erlebt hast, sondern nur aus archivierten Fernsehberichten kennst.
Auch wenn Vergleiche immer hinken: Lena zeigt offensichtlich keine Verbitterung darüber, daß eine große Anzahl von Leuten ihr gegenüber anscheinend ähnliche Haßgefühle entwickelt wie damals die Menschen, die diesen "Gammlern" das Arbeitslager oder gar das Erschießungskommando an den Hals wünschten. Auch sagt sie kein unfreundliches Wort über Nicole, obwohl sie mit dieser Art von Musik ganz offensichtlich rein gar nichts anfangen kann. Sie akzeptiert einfach, daß andere Zeiten einen anderen Zeitgeist hervorgerufen haben. Im Falle der Menschen, die auf die Rebellion der 68er mit Haßtiraden reagiert haben, kommt nach meiner Meinung noch Folgendes hinzu: Der Zusammenbruch nach dem 2. Weltkrieg war ja ein totaler, politisch, wirtschaftlich, kulturell. Werte, die 12 Jahre lang hochgehalten worden waren, waren völlig diskreditiert. Also hat man sich auf die Zeit VOR 1933 besonnen und zurückgegriffen auf Werte des Bürgertums (in all seiner Spießigkeit) - wobei natürlich auch einige unverbesserliche Nazis darunter waren. Und dann kommt nur etwa 20 Jahre nach diesem mühsamen Wiederaufbau auch kultureller Werte eine neue Jugendrebellion daher, die SCHON WIEDER eine Umwälzung alles Gewohnten fordert. Das mußte diese vom Krieg traumatisierte Generation als persönlichen Angriff auf ihre Lebensleistung werten, und dementsprechend empfindlich reagierte sie dann auch.
Bitte nicht falsch verstehen: Weder sympathisiere ich mit dem Gedankengut der Adenauergeneration noch will ich solche Entgleisungen wie die oben genannten entschuldigen. Aber wie bei so Vielem im Leben ist es für die Frage nach dem SINNVOLLSTEN Umgang mit solchen Dingen sehr nützlich, kurzzeitig in die Schuhe der "Gegenseite" zu schlüpfen. Verstehen und Verständnis sind grundverschiedene Dinge.
Also nochmal: Wie wäre Lena damit umgegangen? Sie hätte solcherlei "Hater" vermutlich ignoriert und gleichzeitig sich nicht davon abbringen lassen, mit Gleichgesinnten IHREN Weg zu gehen. Bei unabwendbaren Zusammentreffen hätte sie selbstbewußt ihre Art sich zu kleiden und zu geben vertreten, OHNE der Gegenseite das Gefühl zu geben, sie hätten kein Recht, für sich selbst bei ihrer eigenen bestehenden Lebensweise zu bleiben. Ich habe schon immer etwas gegen Missionare gehabt, weil die Basis ihrer missionarischen Aktivität der Glaube an die Überlegenheit ihrer Vorstellungen vom "richtigen" Leben gegenüber sämtlichen Alternativen ist. Es riecht nach Arroganz. Im Gegensatz dazu Lenas Vorgehensweise als Vorbild: Ich mache es so, und seht, ich erfahre große Lebensfreude dabei. Ich würde mich freuen, wenn es Euch genauso geht, aber ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn ihr bei den Vorstellungen bleibt, die für mich selber nicht in Frage kommen.
Ich kann aus Zeitgründen nur auf die wichtigsten Aspekte eingehen. Ironischerweise hatte z.B. Smith ein ganz anderes Menschenbild als diejenigen, die später seine Vorstellungen vom segensreichen Wirken des Marktes übernahmen. Der Gedanke eines "survival of the fittest" wäre Smith völlig fremd gewesen, ihm ging es um den Weg zur Erzeugung maximalen materiellen Wohlstands und hat das sogar zu einer moralischen Maxime erkoren.Die schriften von smith bildeten neben anderen das theoretische fundament des späteren manchesterliberalismus.
Es fällt mir sicher schwer mich als laie mit einem studierten ökonomen "zu messen", aber für mich liegt der ansatz in einem "smith'schen denken" schon im völlig falschen menschenbild.
ausbeutung und unterdrückung wird nicht mit strafe und dekreten abgeschafft, ebensowenig wie mit wirtschaftlichen strukturen. der ansatz seinem nächsten mit achtung, liebe, gerechtigkeitswillen und einfühlungsvermögen zu begegnen, liegt in der eigenen menscherfahrung in der prägenden kindheit.
diese beschriebenen gesellschaftsstrukturen der san, also ohne übergeordentes führungssystem, in gleichberechtigung, konsenssuche und schenkwirtschaft, durfte ich selbst als prägende familienstruktur erleben, die mir dadurch unweigerlich zu einem gesellschaftlichem vorbild wurde. ein solches miteinander stellte sich schlicht als das überlegenere heraus, das allen seiten gerecht wird.
der vermeintlich schwächere hatte darin sogar priorität, weil der stärkere sich als schutz verstand, die gleichberechtigung davon nicht abhängig zu machen. das sicher trotzdem "herrschende übergeordnete führungssystem" des "starken erwachsenen" gegenüber einem kind, wurde nie als machtinstrument missbraucht, sondern auch dort wieder auf konsens und vertrauenserfahrung gebaut.
In dieser ganzen wirtschaftsordnung herrscht ein menschenbild des "survival of the fittest", was schlicht weg menschenverachtung bedeutet. materielle hortung wird mit wohlstand verwechselt, ein pyramiedensystem dessen nicht funktionieren schon vorprogrammiert ist und das über leichen geht, wird als alternativlos propagiert und weiter gemacht, weil es funktioniert bis alles an die wand fährt.
die bereitschaft da mitzutun, oder sich dessen eben auch zu verweigern, wird nicht durch systeme und wirtschaftsstrukturen geprägt. für mich stellte sich so der schein-sozialismus der ddr schon sehr früh als verlogene menschenverachtende widerlichkeit heraus, ohne das mir das kapitalistische system des westens je als bessere oder gar humanere alternative erschien.
Vermeintlich materieller wohlstand wird zum ersatz des selbstwertgefühls. es gibt damit kein "satt", weil es schon lange nichts mehr mit satt zu tun hat und nie dauerhaft befriedigt. darstellung und scheinmacht statt solidarität und miteinander. auf dem markt und an der börse herrschen krieg, unter dem ausschliesslich die schwächsten auf der welt zu leiden haben. es dauert drei minuten von der ersten lokalen meldung einer bevorstehenden hungerkatastrophe, und der preissteigerung von getreide an der börse. da mit spenden gerechnet werden kann, zieht man sofort profit aus den hungernden.
lena lebt so gesehen anarchie, weil sie sich von den vermeintlichen früchten und herrschaftsstrukturen nicht im geringsten beeindrucken lässt und es soweit mitmacht und nutzt, wie sie es vor sich selbst immer vertreten kann. auch darin verspüre ich von anfang an eine seelenverwandschaft mit ihr.
Meiner Ansicht nach machst Du einen Grundfehler (wie schon oben beim Thema "anarchische Gesellschaften"): Du überträgst das Ideal der Struktur der Familie oder Sippe auf Staaten mit Dutzenden oder gar Hunderten von Millionen Einwohnern. Werte wie "Achtung, Liebe, Gerechtigkeitswillen und Einfühlungsvermögen" kann man mit gewisser Berechtigung als Basis für wirtschaftliche Aktivitäten innerhalb von Familien- oder Sippeverbänden, vermutlich auch von Naturvölkern mit einigen Hundert Mitgliedern verwenden. Wie oben schon gesagt, sinkt mit steigendem Anonymitätsgrad die Chance, daß dies auch in größerem Rahmen funktioniert. Vertrauen ist eine Grundvoraussetzung für wirtschaftlichen Austausch, und das Recht dient als (second-best) Ersatz dafür bei größeren Gesellschaften.
Selbst wenn alle Eltern ihren Kindern besagte Werte vermitteln (was nie der Fall sein wird), besteht immer noch ein Grundmißtrauen, ob denn Menschen, die einem völlig fremd sind, tatsächlich auch vertraut werden kann.
Gleichzeitig ist es nicht zulässig, das gesamte kapitalistische System als Pyramidensystem zu bezeichnen. Es ist wahr, daß bei den Banken durch die Finanzkrise solche Pyramidensysteme aufgedeckt wurden. Das hat aber nichts mit Austauschprozessen in der Realwirtschaft zu tun (also der Erzeugung und dem Handel mit Gütern und Dienstleistungen jenseits des Finanzsektors). Insofern bleibe ich dabei, daß es durchaus auf die Ausgestaltung des Wirtschaftssystems ankommt, ob solche auf Sand gebauten (und somit betrügerischen) Pyramidensysteme in großer Anzahl vorkommen können oder nicht.
Human ist das, was dem Menschen dient. Dabei darf aber nicht beim Wünschenswerten stehengeblieben werden, sondern muß das Machbare im Angesicht von großen, anonymen Gesellschaften und der Orientierung der Mehrheit der Menschen an einem eng definierten Eigennutz in Rechnung gestellt werden. Es ist nicht menschenverachtend, diese Realität zu berücksichtigen, sondern vielmehr, diese zu ignorieren (was der Hauptgrund für den letztendlichen Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" war).
Ich freue mich für Dich, daß Du diese äußerst positive Erfahrung mit Deiner Mutter gemacht hast (auch ich darf mich zu den Glücklichen in dieser Hinsicht zählen, übrigens ebenso auf den Vater bezogen). Wir sind uns beide einig, daß dies wohl genauso auf Lena zutrifft. Trotzdem, Dein Satz über die 95% der Kinder Deines Alters, die Dir damals Leid taten, spricht schon Bände über die durchschnittlichen familiären Verhältnisse in Deutschland und wohl auch anderswo auf dieser Welt. Und deshalb ist es leider illusorisch, ein Wirtschaftssystem auf der Prämisse aufzubauen, daß die überwiegende Mehrheit der Individuen ihre wirtschaftlichen Aktivitäten an Werten wie "Achtung, Liebe, Gerechtigkeitswillen und Einfühlungsvermögen" ausrichten werden. Denn die unbestreitbare Tatsache, daß vermeintlich materieller Wohlstand zum Ersatz des Selbstwertgefühls wird (wie Du schreibst), ist gerade NICHT dem Wirtschaftssystem anzulasten, sondern den bestehenden Defiziten im Elternhaus. Die Art des Wirtschaftssystems legt dann nur noch fest, in welcher Form sich diese Defizite manifestieren können.Wie ich es ausdrückte, sie durfte sich ihr kinderherz bewahren. diese echte ursprüngliche freude am puren leben ist uns ALLEN in die wiege gelegt. oft aus selbst-nie-erfahren-dürfen, wird dieser größte schatz der nach balance suchenden kinderseele gar nicht wahrgenommen und dadurch wieder nicht befriedigt, bzw. nachhaltig gestört. ich erinnere mich noch aus meiner eigenen kindheit, das mir 95% der kinder meines alters damals schon leid taten. alle liebten meine mutter und sagten mir wie gut ich es mit ihr hätte..und ich wusste das. das offensichtlich innige verhältnis von lena zu ihrer mutter, erklärt mir zumindest sehr viel von ihrem wesen.