Zitat von
Lars
Kritik sollte Substanz haben. Kritik sollte der Meinungsbildung dienen. Die meiste Kritik tut das nicht. Sie dient der Meinungsbestätigung. Sie versucht nicht, aus der Beobachtung und Untersuchung des Objekts Schlüsse zu ziehen, nein, sie versucht, vorbestehende Meinungen zu bestätigen und betrachtet daher die Realitat selektiv und ignoriert bewusst oder unbewusst der Meinung Entgegenstehendes. Die Meinung wiederum ist vorgefasst, ist Vorurteil, abhängig von tatsächlichen oder vermeintlichen Gruppenkonsens, "sozial Erwünschtem", sie ist anbiedernd, sie ist somit oft selbst schwammig, unsicher, mehr projizierte Fremd- als Eigenmeinung - und wird darum nur mit größerer Vehemenz verfochten.
Es gibt zudem eine Neigung zur Kritik um der Kritik willen, d.h. viele Aspekte, die für die eigtl. Betrachtung des Kritikobjekts nicht von Belang sind, gar nicht kritikabel sind, werden wiederum nicht ignoriert, sondern in die Kritik einbezogen, sofern sie geeignet sind, die Meinung zu unterstützen (oder sofern sie auch nur geeignet sind, eine "kritische Grundhaltung" zu zeigen, da dies als sozial erwünscht gesehen wird). Es gibt also glz. eine Verengung des Blicks auf Teile des Kritikobekts und eine Ausweitung des Blicks über das Kritikobjekt hinaus, mit anderen Worten: das Kritikobjekt wird verwischt und ist nicht mehr klar umrissen.
Kritik ist zudem nicht ergebnisoffen (das ergibt sich aus Obigen: Ergebnis muss die Meinungsbestätigung sein), sie ist daher in der Grundbeurteilung entweder positiv oder negativ, Zwischenstufen werden vermieden.
Eine kritische Betrachtung eines Objekts wird fehlgedeutet als unbedingte Notwendigkeit, Negatives zu finden, zumindest im Detail, um als "ausgewogen" oder neutral zu erscheinen (bei negativer Grundbeurteilung wird die gleichsam anzunehmende Deutung, positive Teilaspekte finden zu müssen, hingegen eher vernachlässigt). Das ist freilich Unsinn. Gutes ist gut, es muss keine negativen Aspekte haben.
Oft wird zudem gar nicht mehr konkrete Kritik geübt, sondern nur noch Meinung dargestellt, dies umso mehr, je weniger das Kritikobjekt Anlass zur Meinungsbestätigung liefert. Auffällig ist diesbezüglich auch, wie wenig fachbezogen argumentiert wird (z.B. Musik wird als gut oder schlecht bewertet, ohne dies aus der Komposition oder Interpretation zu begründen).
Die Sprache der Kritik versucht zudem, durch bestimmte distanzierende Untertöne Neutralität des Autors dem Kritikobjekt gegenüber zu suggerieren, statt wirklich neutral zu sein.
Die Kritik ist also großenteils ignorant, denkfaul, unreflektiert.
Und wie sollte Kritik nun sein: Substanz haben, also Wissen um die Materie, mit dieser Fachkompetenz möglichst objektiv betrachtend, das Kritikobjekt scharf umreißend, zudem reflektiert sein, d.h. Wissen um das Vorurteil (von dem niemand frei ist) und der dadurch drohenden Beeinflussung, Unterdrückung des Reflexes, Meinung zu bestätigen zu suchen, sondern am Kritikobjekt beschreibend verbleiben und daraus erst Meinung zu bilden. Vergleich von Erwartungshaltung vor der Rezeption mit dem Ergebnis der Rezeption. Zudem sollte sie mutig sein, d.h. auch dem sozial Erwünschten entgegenstehend, wenn das Ergebnis so ist. Die Sprache der Kritik sollte klar sein und sich Mittel der Ironie u.ä. möglichst enthalten.