Habe mir gestern direkt hintereinander das
Home- und das
If I Wasn't Your Daughter-Video angesehen und könnte daran, an Song wie an Video, punktgenau unterscheiden, wie mich eine Pop-Ballade ansprechen kann und wie eher nicht so. @Peter Paul Benz schrieb einmal, dass große Gefühle sich seiner Ansicht nach nicht mit großen Worten vertragen. So sehe ich das auch, in Bezug auf Musik will ich den "großen Worten" mal "große Töne" hinzufügen. Gerade bei Balladen bin ich da äußerst zickig: Die Schwelle, hinter der es mir
too much wird, zu dick aufgetragen, zu pathetisch, zu sehr "Emotionen aufs Auge drückend", ist bei mir sehr schnell überschritten. Wenn ein Song zu offensiv auf den Affekt-Knopf drückt, reagiere ich eher mit Abwehr. Nun gibt es da zwar heftigere Beispiele als
Home. Und ich finde den Song auch alles andere als schlecht, er gefällt mir inzwischen sogar deutlich besser als am Anfang. Und doch, wo immer sich
Home entscheidet, auf die emotionale Tube zu drücken – im Video steht hierfür vor allem Lenas weinendes Gesicht im Close-up –, da entscheidet sich
If I Wasn't Your Daughter, zurückhaltend zu bleiben, leise und tastend.
Und genau das wirkt auf mich viel intensiver.
Das wäre schon so, verstünde ich vom Text kein Wort. Doch der bestärkt die Wirkung natürlich noch. Dass der biografische Bezug hier für mich viel schlüssiger wirkt, das liegt natürlich weniger an Lena als an meinem Vorwissen. Während man die Geschichte um ihre Freundin ja sozusagen aus heiterem Himmel aufgetischt bekam, ist die Vater-Geschichte für jeden, der sich mal näher mit Lena beschäftigt hat, bekannt. Dass das einmal ein Thema werden könnte, sobald sie sich zu persönlicheren Songs entschließt, ist alles andere als überraschend. Natürlich macht so ein Song auch neugierig auf Lenas tatsächliche Situation – dass die Boulevardpresse sofort drauf anspringt, war abzusehen (auch für Lena & Team, denen man hier sicher keine Unbedarftheit zu unterstellen braucht; und ganz nüchtern betrachtet ist das öffentliche Interesse natürlich auch ein Erfolgsfaktor); und ich verhehle auch gar nicht, dass diese Neugier auch bei mir befeuert wird.
Aber das ist trotzdem zweitrangig. Der biografische Hintergrund ist sicherlich berührend, aber der Song würde eben kaum weniger wirken, wenn man von diesem Hintergrund nichts wüsste. Denn was da besungen wird, das ist ja ein universales Thema. Mir selbst fallen sofort zwei Beispiele aus meinem Kreis ein – eine Freundin, die im selben Alter war wie Lena, als der Vater die Familie verließ, und die viel später, schon weit in den Dreißigern und zunächst ohne das Wissen ihrer Mutter, wieder Kontakt mit ihm aufgenommen hat, und meine 15-jährige Nichte, ein Scheidungskind, für das der abwesende (in dem Fall: ins Ausland gezogene, nur noch selten gesehene) Vater ein allgegenwärtiger emotionaler (und sehr konfliktreicher) Bezugspunkt ist. Die bisherigen Reaktionen auf das Stück lassen vermuten, dass es einen Nerv trifft, dass es für eine vielen Leuten bekannte schwierige, widersprüchliche Gefühlslage die richtigen Töne und Worte zu finden scheint. (Und ich glaube, dass der Vers mit "Whatever you did, you made me like this, I'm one of your big mistakes" hier das Essential ist, dass das etwas ausdrückt, worin man sich sofort wiederfindet). Und das ist umso bemerkenswerter, als die künstlerische Bearbeitung solcher "hochemotionalen" Themen ja von Kitsch-Fettnäpfchen und Pathos-Tretminen nur so umzingelt ist. So wie ich das wahrnehme, umgeht der Song sie
(fast?) alle.
Well done, Lena
.