Woran sich entscheidet, ob Stefan Raab ein Guter ist
(Vorletzte Betrachtungen von Jupp. Entschuldigt - again - die Länge)
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Lena Meyer-Landrut in einer Show zu entdecken, in der ein deutscher Teilnehmer für den Eurovision Song Contest gefunden werden sollte, ist ein bisschen so, als würde man in den Keller gehen, um nach der vermissten Kneifzange zu suchen, und findet stattdessen das vor fünfzig Jahren verschollene Familiensilber. Es ist nicht nur, dass so unglaublich viele Leute schon nach "My Same" gewusst haben, dass nur LML Unser Star für Oslo gewinnen kann. Es ist, dass damals schon so viele geglaubt haben, dass der ESC nur der erste Schritt in der Karriere dieses offensichtlich von den Göttern geliebten Wesens Lena sein wird. LML war von Anfang an in den Augen vieler Menschen viel, viel mehr als die Kandidatin für Oslo. Sie hat also USFO und den ESC nicht deshalb gewonnen, weil sie so toll zu diesen Veranstaltungen gepasst hätte. Sie hat USFO gewonnen - das ist bis zur Übermüdung wiederholt worden - weil sie so völlig anders war als alle anderen Casting-Show-Kandidaten. Sie hat auch den ESC gewonnen, der ja letztlich ebenfalls so eine Art Talentwettbewerb ist, weil sie so anders war als alles, was sonst in dieser Bling-Bling-Show aufgetreten ist. Sie selbst hat mehrfach zu Protokoll gegeben, dass der ESC als solcher sie eigentlich nie interessiert hat, jedenfalls nicht bei ihrer Bewerbung für USFO. Sie hatte von Anfang an anderes im Sinn. Die Teilnahme am ESC war insofern eher ein herrlicher Unfall. Sie hat USFO und den ESC eher so mitgenommen - und beide Events genau deshalb gewonnen, weil sie so anders und eigentlich viel zu gut für Veranstaltungen dieser Art ist.
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Weil das so ist, habe ich von Anfang an einen Traum gehabt - und ich glaube, ich bin nicht der einzige: Dass LML den ESC rockt, sich aber dann schnell von der Talentwettbewerb-Ebene verabschiedet und sich daran macht, die Liga zu erobern, in der sie eigentlich spielen muss. Das hätte geheißen: Als Musikerin und Sängerin lernen, reifen und wachsen. Eine Band haben, Konzerte spielen. Ein oder zwei Jahre Zeit, um fernab von der Öffentlichkeit Musik und Songs selbst zu entwickeln, auszuprobieren, aufzunehmen. Ein zweites, ernstzunehmendes Album, zu dem sie mehr von sich beigesteuert hat als den Gesang und ein paar Lyricszeilen über das Telefon. Erste kleine Gigs und Clubtouren im Ausland, vielleicht die Aufmerksamkeit eines internationalen Produzenten, und vielleicht, irgendwann, der Duchbruch, der sie in eine Reihe stellt mit den großartigen jungen englischen, amerikanischen und skandinavischen Songschreiberinnen und Popsängerinnen, die immer wieder als ihre Vorbilder genannt wurden. LML hat das Potential dazu.
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Verhindert die offenbar feststehende Entscheidung, LML nächstes Jahr erneut zum ESC zu entsenden, die Erfüllung dieses Traums? Nicht unbedingt, nein. Aber! Erstens: Sie verzögert ihn. Denn ESC 2011 heißt spätestens ab Jahresbeginn: Neue mediale Dauerpräsenz, Song-Casting, Dauergast in TV total und allen möglichen anderen Raab-Events. Heißt auch: 2011 das nächste Schnellschuss-Album. Und, zweitens: Sie macht die Erfüllung des Traums unwahrscheinlicher. Denn, ob es einem gefällt oder nicht, sie bedeutet, dass es für Lena viel, viel schwieriger werden wird, das "ESC"-Etikett wieder abzustreifen. Sie wird nun für mindestens ein weiteres Jahr nicht einfach als Lena Meyer-Landrut, Deutschlands großartigste Song-Interpretin, sondern in erster Linie als "ESC-Lena" in der Öffentlichkeit stehen. Es ist wahnsinnig schwer, ein solches Etikett wieder loszuwerden. Deshalb bin ich unglücklich über diese Entscheidung. Und es fällt mir schwer, dahinter nicht in erster Linie den Einfluss von Stefan Raab zu sehen. Der ESC ist seine Obsession. Nicht Lenas. Es liegt nahe, hier eine Instrumentalisierung des Silberschatzes, den er gefunden hat, für seinen Ego-Trip zu sehen.
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Es gibt aber noch eine andere, menschlichere Interpretation für Stefan Raabs Agieren: Er ist verlenaliebt, wie wir alle. Er würde so etwas sagen wie: "Wenn ich im nächsten Jahr einen neuen Kandidaten suchen soll, dann müsste ich jetzt bereits versprechen könnte, dass ich dieser Person meine ganze Zuneigung, Unterstützung, meine ganze Energie und meinen gesamten Support so bedingungslos und restlos zukommen lassen werde, wie dieses Jahr für Lena. Und dann sehe ich Lena an und merke: Es ist unmöglich, das zu versprechen, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass es je wieder so werden wird wie mit ihr. Ich würde dabei immer nur an sie denken. Ich habe sie gefunden, ich will keine andere mehr finden. Ich will nicht mal mehr suchen." Ich habe Raab in den letzten Wochen neu schätzen gelernt, und ich möchte gern glauben, dass er im Stillen so denkt.
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Ist Raab also ein Guter? Ich weiß es nicht. Es wird sich zeigen. Aber ich kann sagen, woran es sich für mich entscheiden wird. Raab hat eine Aufgabe zu bestehen, die härter ist, als alles, was ihm bei Schlag den Raab abverlangt wird. Es ist die schwerste Prüfung, vor die ein stolzer Entdecker/Vater gestellt werden kann, nämlich die: einzusehen, dass sein Kind das Potential hat, größer zu werden, als er selbst je war. Und dass sie dieses Potential nur wird realisieren können, wenn er - sie loslässt. Und zwar zu genau dem Zeitpunkt, an dem er ihr den maximalen Schub gegeben hat, den er ihr geben kann, damit sie alleine weiterfliegt und neue Himmel für sich erobert - nicht früher, aber vor allem (siehe ESC 2011) auch nicht zu spät. Er muss zulassen, dass sie neue Förderer und Mitstreiter findet, die sie weiterbringen können, als er es kann, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Wenn er Lena liebt und glaubt, dass sie das beste ist, was ihm je passiert ist, wird er genau das tun und sie gehen lassen. Seine Verdienste um sie sind jetzt schon riesig. Mit diesem Schritt würden sie ins Unendliche wachsen - unendlich viel mehr als der Kinderkram einer "Titelverteidigung" beim ESC. Die Alternative ist, dass er sein Ego nicht überwinden kann und glaubt, dass er das beste ist, was Lena je passiert ist. Dann wird er sie nicht nur nächstes Jahr beim ESC verheizen und auf ewig ihre Songs schreiben und ihre Platten produzieren wollen, sondern sie auf immer als Pausensängerin oder Moderatorin zur Elton-artigen Co-Figur in seinem privaten ESC-, Wok- und Bullshit-Universum machen. Sollte es so kommen, möge ihm die Welt das nie, nie, nie verzeihen.
So. Und immer wenn ich soweit bin, reicht das Anschauen eines beliebigen LML-Videos. Und schon hoffe und träume ich wieder.
Olé olé.
Das war mein vorletzter Post in Lila. Der letzte ist hier.