Aber ich glaube, dass die Punktevergabe und ihre bizarre, umständliche, ausufernde Art der Verkündung ein entscheidender Bestandteil dieser Show sind. Ohne sie hätte der Grand-Prix nicht all diese Jahrzehnte überlebt, wäre nicht in dem Maße zum „Kult“ geworden. (Woran soll es sonst liegen? An der Qualität der Musik?)
Zu diesem Ritual gehörte nicht nur das faszinierte Zusehen, wenn in die verschiedenen Länder geschaltet wurde, mit all den Pannen und Peinlichkeiten und der detaillierten Durchsage der Punkte. Dazu gehörte vor allem auch die teils mit heiligem Ernst geführte Diskussion über das, was diese Punkte über das Verhältnis der Nationen untereinander aussagte.
Wesentliches Element der ESC-Folklore sind diese (oft völlig übertriebenen) Debatten darüber, ob „uns“ keiner mag, ob es eine „Ostblock-Mafia“ gibt und ob Skandinavier schon deshalb unschlagbar sind, weil sie sich untereinander die Höchstpunktzahlen zuschubsen. Die Feindschaft zwischen den Juroren aus Österreich und Deutschland, die dem jeweils anderen Land ewig keinen Punkt geben wollten, ist legendär.
All das sorgte für Gesprächsstoff vor dem Fernseher, für Spannung und für Entsetzen oder Jubel, wenn ein Teilnehmer, der bislang überall abgeräumt hatte, von einem Land plötzlich nur einen Punkt bekam. In diese Dramaturgie hat die Eurovision schon vor ein paar Jahren eingegriffen, als sie – aufgrund der gewachsenen Teilnehmerzahl – nur noch die Punkte 8, 10 und 12 vorlesen ließ. Mit dem neuen System, das gestern erstmals eingesetzt wurde, hat sie diese Zeremonie vollends ruiniert.
Sowohl die Zähllogik als auch der Ablauf sind auf ein einziges Ziel hin geändert worden: Spannung aufrechtzuerhalten. Diese Spannung ist aber völlig abgekoppelt von interessanten einzelnen Beobachtungen oder Wertungen. Spannung bedeutet einzig und allein: Bis zur letzten Minute soll offen sein, wer gewinnt.
Es ist das gleiche Prinzip von Spannung, das deutsche Fernsehsender glauben lässt, dass eine Castingshow aufregender wird, wenn die Bekanntgabe der Entscheidung endlos hinausgezögert wird.