@Doktor Landshut: Naja, es wäre aber umgekehrt auch eine Abwertung von Lenas jetziger Arbeit, wenn man den großen qualitativen Sprung, der "Stardust" - wie man m.E. schon an den Schnipseln hören kann - gegenüber den Vorgängeralben darstellt, kleinreden würde. Lena selbst sagte ja schon, dass sich dieses Album in gewisser Weise wie ihr erstes anfühle - und in gewisser Weise stimmt das ja auch. Man redet MCP und GN und ihre viele schönen Songs nicht klein, wenn man anerkennt, dass sie unter Bedingungen entstanden sind, die mit der Entstehung des ersten und zweiten Albums eines auf "normalem" Weg veröffentlichenden Künstlers - sagen wir, drei x-beliebige Beispiele, den ersten zwei Alben von Suzanne Vega oder von Kate Nash oder von Kate Bush - nichts zu tun haben. Was das betrifft, könnte man "Stardust" zumindest als "halbes" Debütalbum bezeichnen. Es ist das erste Album, bei dem a. Lena als eigenständige Künstlerin selbst die Fäden in der Hand hält - worauf sie offensichtlich auch mächtig stolz ist - und das b. in einem angemessenen Produktionszeitraum entstanden ist - wie schon einmal gesagt, hatte sie für jeden einzelnen Song mehr Zeit als für die gesamte MCP . Und dass diese von Grund auf besseren Bedingungen auch zu einem deutlichen Schritt nach vorne und einem "lenaeskeren" Gesamtergebnis führen, liegt doch auf der Hand. Vor allem, neben dem "organischeren" Sound: Erstmals singt Lena im Studio so geil wie auf der Bühne. Der Unterschied zu MCP u. GN springt einen da doch förmlich an. Dies zu bemerken und zu bejubeln, schmälert meine Freude an den Vorgängeralben und meine Anerkennung für die in diesem Rahmen erbrachte Leistung von Lena kein Stück.


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Aber zu glauben, dass sie auch nur einen der Stardust-Songs allein oder auch nur wesentlich allein geschrieben hat, ist naiv. Das hat nichts mit ihrem Talent zu tun. Ich halte ihr Talent für quasi unendlich. Aber eine schöne Melodie sich auszudenken hat noch nichts mit komponieren zu tun. Komponieren ist ein Handwerk, das gelernt werden muss wie alle anderen auch. Ohne Kenntnisse in Harmonielehre usw. ist da nichts zu machen, und die eignet man sich in der Regel nicht so schnell an (und vor allem nicht, ohne ein Instrument zu lernen). Da man hören kann, wie viel Raffinement gerade in den Harmonien und Arrangements von Stardust (dem Album) steckt, plädiere ich doch für für ein gewisses Augenmaß bei der Vorstellung der "begnadeten" Komponistin...
Lass das Wort "credibility" weg, wenn es Dich ärgert. Es gehört zum Wesen der Popmusik, dass sie für einen Stil steht und einsteht, ein Stil, der eben auch in Fragen der Mode, des Lebensentwurfs, der passenden Drogen etc. von den Musikern verkörpert wird. (Der Stil kann natürlich auch die postmoderne Ironisierung aller Stile und deren ständiger Wechsel sein.) Deswegen hat die Popmusik in immerwährender Folge neue Subkulturen ausgebildet. Glaubwürdigkeit ist die wichtigste Währung solcher Subkulturen. Es geht in der Regel nicht um die Anerkennung durch die größtmögliche Masse. Es geht um die Anerkennung durch das richtige Publikum, d.h. jenes Publikum, das der Künstler seinerseits anerkennt, weil es seinen Stil teilt. Wenn Du ernsthaft behaupten willst, die Frage der Glaubwürdigkeit vor den eigenen Fans und den Anhängern der eigenen Pop-Subkultur, - eine Glaubwürdigkeit, die es zum Beispiel verbietet, in bestimmten Kontexten aufzutreten, bestimmte Sachen zu singen oder mit bestimmen Leuten zu kooperieren - würde nur für zwanzigjährige Indieboys (was immer das ist) eine Rolle spielen, und nicht für das Gros der Popmusiker quer durch alle Jahrzehnte, die sich einer bestimmten Stilrichtung zugehörig gefühlt haben, also für all die Waver, Punks, Mods, Rockabillys, New Romantics, Elektroniker, Progrocker, Metaller usw usf - dann weiß ich ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll, ohne das Gefühl zu bekommen, ich spreche mit einem Kleinkind, und nicht mit jemandem, dessen Kompetenz auf dem Gebiet der Populärmusik ich immer hoch geschätzt habe. Die Wichtigkeit dieses Begriffs hervorzugeben heißt ja nicht, dass man ihm naiv auf den Leim geht. Man kann das alles als die Konstruktion durchschauen, die es ist, aber dadurch wird es nicht weniger real und effektiv. Natürlich geht es auch ums Geldverdienen. Aber wenn The Who in den mittleren Siebzigern beim ESC angetreten wären - oder Pete Townshend das Album irgendeines Castingstars produziert hätte, wenn es so etwas damals schon gegeben hätte -, dann hätten eben drei Viertel ihrer Fans vor Entsetzen über diesen Stil- und Glaubwürdigkeitsverlust die Gefolgschaft gekündigt, und das hätte sich auch finanziell bemerkbar gemacht. (Die haben doch genau diese Situation sehr hellsichtig ironisiert - The Who Sell Out, right?) Selbst wenn ich in Bezug auf Ellie Goulding Unrecht hätte (wovon ich nicht überzeugt bin) bleibt dieser allgemeine Punkt richtig. Es ist doch hier - soweit ich die Debatten nachträglich nachvollzogen habe - im Kontext der ersten Neuigkeiten über Stardust auch richtigerweise betont worden, wie bemerkenswert es ist, dass jemand wie Meyer, der dem Umfeld der diskursiv und distinktionsmäßig hoch bewussten Hamburger Schule entstammt, für den "Castingstar" und "Grandprix-Star" LML arbeitet. Es geht eben nicht nur darum, die größte Massenwirkung für die eigene Arbeit zu sichern, es geht auch um das nicht weniger wichtige Bedürfnis, sich nicht zum Gespött der Leute zu machen, die man für seine peer group hält. (Und das nicht nur in der Popmusik.)
